THEMA „Wir wissen gar nicht, was bei uns los war” blick-Interview mit Pfarrer Dr. Thomas Zippert, dem Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck ? Wie sind Sie landeskirchlicher Koor- dinator für das Thema sexualisierte Gewalt geworden? Dr. Thomas Zippert: Das Thema hat mich gefunden: Als Pfarrer der Landeskir- che habe ich die Notfallseelsorge mit auf- gebaut und daher eine Idee davon, wie es Menschen geht, die etwas Traumatisches erlebt haben. Meine Abordnung an die Kirchliche Hochschule Bethel, wo ich lan- ge Zeit in der Sozialen Arbeit lehrend tätig war, wurde beendet just zu dem Zeitpunkt, als der Rat die Projektstelle „Koordinati- on zum Thema sexualisierte Gewalt“ be- schlossen hatte und der Prälat mich fragte, ob ich das übernehmen will. Ich habe Ja gesagt: Sexualisierte Gewalt ist zwar kein schönes Thema, aber wenn ich hier etwas verbessern kann, ist das schon sehr sinn- voll. ? Früher sprach man von sexuellem Missbrauch oder sexueller Gewalt. Jetzt heißt es „sexualisierte Gewalt“. Was ist der Unterschied? Zippert: Sexualisierte Gewalt ist in Fachkreisen ein Ausdruck von Gewalt mit Mitteln der Sexualität. Der Begriff be- schreibt, dass Stärkere, Mächtigere, Ältere ihre Position gegenüber Schwächeren aus- nutzen – zu ihrer Bedürfnisbefriedigung. Der Begriff „sexueller Missbrauch“ stammt aus dem Strafgesetzbuch. Fachleute sa- gen, wenn man von sexuellem Missbrauch spricht, könnte man auf die Idee kommen, dass es einen sexuellen Gebrauch von Kin- dern gibt. Diese Assoziation möchte man vermeiden. Natürlich gibt es auch spezifi- sche Formen sexueller Gewalt. ? Die richtige Sprache zu finden, scheint in diesem Bereich schwierig zu sein … Zippert: Extrem schwierig. An diesem Thema hängen viele Erfahrungen, auch schmerzvolle, leidvolle, beschämende. Ge- fühle kommen hoch, die Menschen über- fordern, mitunter zum Weinen bringen. Deshalb meinen viele, man solle nur in Andeutungen darüber sprechen. Das ist einerseits richtig, aber ich habe anderer- seits von Betroffenen gelernt, dass sie ei- ne offene, klare, direkte Sprache schätzen. Sie wollen nicht, dass drumherum geredet wird, dass durch eine zu vorsichtige, zu schonende Sprache das Unrecht der Täter bagatellisiert wird. Für andere wiederum kann ein direkter Sprachgebrauch auch verletzend sein. »Als Kirche müssen wir noch lernen, über sexualisierte Gewalt zu reden.« Als Kirche müssen wir noch lernen, da- rüber zu reden. Wir hatten einige Vorfälle in unserer Kirche – nennen wir die Orte, die Namen? Natürlich gilt bei Beschul- digten die Unschuldsvermutung, es muss anonymisiert werden. Trotzdem muss man zu dem stehen, was passiert ist – nicht stumm, sondern indem man drüber redet. ?Die katholische Kirche steht bei dem Thema viel stärker im Fokus. Gibt es Anhaltspunkte, wie groß das Problem in der evangelischen Kirche ist? Zippert: Nein, wir wissen gar nicht, was bei uns los war. Eine EKD-Forschungs- studie wird in zwei Jahren erste Ergebnis- se vorlegen, die hoffentlich belastbare Zahlen liefern. Es gibt die Zahl von über 900 Fällen, die seit 1945 an die EKD ge- meldet wurden, davon 60 Prozent aus der Diakonie. Aber das ist nicht belastbar, denn es gab bis vor Kurzem keine Melde- pflicht. Die Ulmer Dunkelfeldstudie von 2019 vermutet für beide Kirchen jeweils ca. 100.000 Betroffene, statistisch korrekt hochgerechnet aus relativ wenigen Fällen dieser Studie. Als diese Studie veröffent- licht wurde, löste das großes Entsetzen und Abwehr aus. ? Wer und was ist eigentlich gemeint, wenn man von „Betroffenen“ redet? Zippert: Es gibt Straftaten, Übergriffe, Grenzverletzungen. Bei Straftaten geht es um Penetrationen, Fälle, wo Eltern ih- re Kinder prostituieren oder sexualisierte Gewalt gefilmt wird (Kinderpornografie). Dann gibt es leichtere Fälle, Berührungen an Geschlechtsteilen zum Beispiel. Nicht unter das Strafrecht fallen absichtliche Übergriffe oder unabsichtliche Grenzver- letzungen. Diese objektiven Abstufungen sagen aber nicht immer etwas darüber aus, wie stark Betroffene davon belastet sind. Auch eine Grenzverletzung kann für jemanden, der eine Vorgeschichte hat, eine erhebli- che Belastung sein. Ein Übergriff kann ein Vorspiel sein zu etwas Schwererem – ein Täter testet aus, wie weit er gehen kann – oder wenn man sexistisch beleidigt wird, also als Mann oder Frau auf seine Kör- perteile reduziert wird. Übergriffe können auch anzügliche Bemerkungen von Kol- legen oder Vorgesetzten sein oder wenn sie einem zu nahe rücken. Das sind noch keine Straftaten, sie sind aber trotzdem ein Vergehen im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und können angezeigt und geahndet werden. ? Viele meiden das Thema lieber, auch um das Image der Kirche zu schützen. Ist das verständlich? Zippert: Das Problem von der eigenen Kirche fernzuhalten ist, glaube ich, ein er- folgloses Unterfangen. Wir haben das The- ma nun mal am Bein und müssen uns ihm stellen. Eine Kirche, die mit Luther gelernt hat, dass alle Menschen Sünder sind, auch kirchliche Amtsträger oder andere Verant- wortliche, sollte nicht überrascht oder er- schrocken sein, dass Menschen so etwas machen und straffällig werden können. Wir kennen dieses Entsetzen ja aus ande- ren Zusammenhängen – auch im Dritten Reich hat die Kirche vieles falsch gemacht. Was macht man mit Sünden? Sie beken- 8 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2022