-Interview über Erinnerung und Gedenken nach dem Anschlag in Hanau a n r e d u a h c S / v t . o d e m i : o t o F und Jugend hat sich in diesem Haus abgespielt. Und es stimmt: Damals, als das frisch passiert ist, kam Co- rona und das JUZ war geschlossen. Alles war geschlossen. Man konnte nirgendwo hin, aber die Menschen brauchten einen Ort, um sich zu tref- fen, um zu sprechen, um damit klar- zukommen, was passiert ist. ?Was habt ihr gemacht? Hashemi: Die meisten Freun- de, die meisten Kesselstädter stan- den wochenlang von morgens bis abends vor der Arena-Bar, wo es passiert ist. Sie haben einfach da gestanden und nachgedacht. Dann kam Corona und dann gab es teil- weise drei, vier Razzien am Tag. Leu- te wurden sogar in Handschellen genommen und es wurden Strafen verteilt. ?Wegen der Corona-Auflagen? Hashemi: Ja, weil sie sich trotz- dem getroffen haben. Sie haben einen Ort gebraucht, um sich zu treffen und zu reden. ?Es gab nicht viele Möglichkei- ten für Treffen ... Hashemi: Es war einfach nicht mög- lich, aber die Leute haben sich trotzdem getroffen, oft auch am JUZ oder an der Kirche. Du musstest immer damit rechnen, dass du vor der Polizei weglaufen muss- test. ?Also war das Bedürfnis groß, mitei– nander zu sprechen. Hashemi: Die Menschen haben sich das nicht nehmen lassen. Ich hatte irgend- wann die Nase voll von diesem Katz-und- Maus-Spiel. Wir haben dann Briefe an die Stadt und an die Polizei geschrieben. Dann ist es ein bisschen ruhiger geworden. Das war die Problematik, mit der wir neben der Trauer auch zu kämpfen hatten. ?Mein Eindruck ist, dass es in Kessel- stadt einen großen Zusammenhalt gibt. Hat sich das in dieser Ausnahme- situation bewährt? Hashemi: Hanau ist generell ein kleiner Ort. Jeder kennt jeden. Und Kesselstadt ist noch mal eine Familie für sich. Als die Sache passiert ist, sind die Menschen noch mehr zusammengerückt. Jeder war irgend- wie betroffen, jeder hat mitgefühlt und je- der hat jemanden verloren an diesem Tag. ?Eure Erinnerung ist auch politisch. Inwiefern? Hashemi: Die komplizierte Frage in der Erinnerungspolitik ist: Wie erinnert man richtig? Ich glaube, darauf gibt es keine richtige Antwort, denn jeder Mensch erin- nert auf seine Art und Weise. Bei uns war es so, dass wir schon sehr früh die Namen der Opfer betont haben. Es war das erste Mal bei einem Anschlag in Europa, dass nicht der Täter im Vorder- grund stand, sondern dass über die Men- schen gesprochen wurde, die gestorben sind. Ein Jahr lang sind wir hinter den Medien hergerannt, damit sie die Namen überhaupt richtig schreiben. Wir haben den Hashtag #saytheirnames (deutsch: „Sagt ihre Namen“) aufgegriffen und stark gemacht. Das hat sich etabliert. Wo immer wir sind, sagen wir die Na- men. Die wenigsten kennen tatsächlich den Namen des Täters, was gut so ist. Es gibt bundesweit viele Gedenkveranstal- tungen, nicht nur an Jahrestagen. Hier in Hanau erinnern wir monatlich an den Ge- denk-Orten. »Wir wollen eine positive Veränderung.« ?Siehst du es als eine Art Auftrag der Verstorbenen, die Erinnerung wach- zuhalten und politische Forderungen damit zu verbinden? Hashemi: Ich kann mich gut an eine Fern- sehsendung mit Markus Lanz erinnern, zu der meine Schwester Saida und ich einge- laden waren. Da hat Lanz gesagt, es seien „sinnlose Tode“ gewesen. Das Wort „sinn- los“ hat mich gestört und ich habe mir ge- dacht, dann müssen wir dem Tod einen Sinn verleihen. Das ist die Erinnerungs- politik, die wir machen. Und das sind die politischen Forderungen, die wir haben. Wir wollen, dass dieser Tod etwas bewirkt und eine positive Veränderung in diesem Land bringt. ?Zu der politischen Seite gehört der Untersuchungsausschuss im Hessi- schen Landtag. Mit dem Abschlussbe- richt seid ihr nicht zufrieden. THEMA Hashemi: Nicht wirklich. Wir hatten vier Forderungen: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Aufklärung ist dabei einer der größten Punkte. Es war schon ein Kampf, diesen Untersuchungs- ausschuss überhaupt zu bekommen. Wir haben ihn dann genau beobachtet. Ir- gendwann ist der Ausschuss zu einer poli- tischen Schlammschlacht geworden. Alle haben die Schuld hin- und hergeschoben. Es ist klar, dass Fehler passiert sind, aber bis heute hat niemand dafür Verantwor- tung übernommen. Das kritisieren wir. ?„Erinnern heißt verändern“, sagt ihr. Was muss sich vor allem ändern? Hashemi: Das Wichtigste ist, dass es nicht mehr so viel Hass, so viel Spaltung gibt. Innenpolitisch wird gerade extrem viel ge- spalten. Es bilden sich Fronten links und rechts und es gibt gefühlt gar keine Mit- te mehr. Vor allem die Politik gießt immer mehr Öl ins Feuer. Es fehlt jemand, der das alles glättet und versucht, zu schlichten und aufeinander zuzugehen. ?Das ist die politische Ebene. Was kann jede und jeder Einzelne tun? Hashemi: Wir möchten, dass die Men- schen uns unterstützen und Solidarität zei- gen, dass sie erinnern – egal in welcher Art und Weise. Und dass sie vor allem unsere Forderungen in Richtung Politik weitertra- gen. Wir haben nicht die Lösung für alle Probleme hier in Deutschland, aber wir können versuchen, einen Ball ins Rollen zu bringen. ● Fragen: Olaf Dellit ZUR PERSON Etris Said Hashemi (28) aus Hanau studiert Politikwissenschaften in Frankfurt am Main. Zu seinen Hobbys zählt er Sport, darunter Boxen und Motorradfahren. Im evangelischen Jugendzentrum in Kessel- stadt war er auch als Schwimmlehrer tätig. Seine Familie stammt aus Afghanistan. Die rechtsradikalen Anschläge in Hanau am 19. Februar 2020 überlebte er mit schwersten Verletzungen und lag danach lange im Krankenhaus. Sein Bruder Nesar wurde ebenso ermordet wie Gökhan Gül- tekin, Sedat Gürbüz, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic´ , Vili Viorel Pa˘un, Fatih Saraçog˘lu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Der Täter erschoss seine Mutter und sich selbst. Mehr zur Initiative: www.19feb-hanau.org blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2024 7